Mit einem schnellen Griff räumt Ingo Berhorst einen Fahrradrahmen vom beigen Samtsofa, bevor er sich setzt. Auch die Wand hinter ihm ist geschmückt mit Rädern – ebenso wie jeder andere Quadratmeter in seinem Geschäft. „Ich liebe alles Alte“, sagt der 49-Jährige und deutet auf ein Bild von Elvis Presley, das hinter ihm an der Wand hängt. Für seine Kunden ist das der Grund, warum sie in Ingos Laden kommen. Denn bei den etwa 200 Zweirädern, die hier stehen, handelt es sich nicht etwa um normale Fahrräder – es sind alles Oldtimer. Vor zwei Jahren wagte Ingo den Schritt und widmete sein ganzes Berufsleben seinem Geschäft „Living Classics“, zu deutsch „Lebende Klassiker“.
Als er die 200 m2 großen Räumlichkeiten in Wiedenbrück, Kreis Gütersloh, vor zwölf Jahren anmietete, war das nicht sein Plan. „Eigentlich sollte das hier meine Männer-Höhle werden“, erzählt er schmunzelnd. „Ein Ort, an dem ich in Ruhe an Fahrrädern schrauben kann.“ Sein Hobby blieb allerdings nicht unentdeckt: Die großen Schaufenster im Zentrum Wiedenbrücks zogen Zuschauer an. „Nach und nach kamen immer mehr Menschen mit ihren alten Rädern zu mir“, erinnert sich der 49-Jährige. Und so kam es, dass Ingo sich auch ihrer alten Schätzen annahm. Das Restaurieren diente dem gelernten Schreiner als Ausgleich zur Arbeit – bis er vor zwei Jahren seinen Job als Inneneinrichter an den Nagel hängte und Living Classics eröffnete.
Diebstahl weckt Liebe
Seine Liebe zu Fahrrädern ist ebenso alt, wie manches Gefährt im Laden. Mit acht Jahren setzte Ingo sein erstes Fahrrad zusammen. „Mein Vater war es leid, dass mir ständig meine Räder geklaut wurden“, erzählt Ingo. „Er wollte mir kein neues mehr kaufen.“ Also begann er, alte Räder wieder in Schuss zu bringen – und entdeckte seine Freude daran. „Es ist einfach schön, Dinge zu erhalten“, sagt er. Aber auch optisch gefallen ihm die alten Zweiräder besser, als jene, die heutzutage produziert werden. Vor allem die winzigen Details haben es ihm angetan. Und eben diese gilt es möglichst exakt wieder herzurichten – auch wenn der Ausgangpunkt ein rostiger Drahtesel ist.
Eine Klingel für 300 €
Für die Restauration benötigt Ingo deshalb manchmal bis zu einem Jahr. Das hängt vor allem davon ab, ob und wie schnell er Ersatzteile beschaffen kann. Derzeit ist das älteste Fahrrad in seinem Laden von 1906. „Einen Gummimantel aus diesem Jahr zu finden, der richtig gelagert wurde und daher nicht porös ist, ist nicht einfach“, sagt Ingo. In seiner Werkstatt stapeln sich daher haufenweise Ersatzteile: Rockschütze aus den 50er-Jahren, Karbidlampen und Schutzblechreiter diverser Marken. Seit vielen Jahren trägt Ingo die Teile zusammen. „So mancher alte Herr hat noch ein Schätzchen im Keller liegen“, sagt er. Aber auch online und bei anderen Sammlern findet er Einiges. Ein Problem: Die Teile werden immer seltener. Deshalb haben die Ersatzteile ihren Preis. Ein Originalmantel für das Rad von 1906 kostet 100 €. Ingo hat auch schon Fahrradklingeln für 300 € eingekauft. „Deshalb frage ich meine Kunden immer, wie viel sie in die Restauration investieren wollen.“
Sind die Ersatzteile da, heißt es schrauben, polieren, lackieren und – linieren. Bei Letzterem handelt es sich um ein vergessenes Handwerk. „Die grazilen Linien und Verzierungen, die man hier sieht, wurden früher alle von Hand gezogen“, sagt Ingo und deutet auf einen Fahrradrahmen. Deshalb hat er sich das Handwerk beibringen lassen – von einem 87-jährigen gelernten Linierer. „Wenn ich etwas restauriere, dann auch zu 100 % original“, sagt Ingo bestimmt. „Genau auf meine Arbeitsstunden schaue ich dabei nicht.“ Eine Komplettrestauration kostet zwischen 1000 und 1500 €.
Ingos Hang zum Perfektionismus hat sich mittlerweile herumgesprochen. Sein Kundenstamm kommt aus ganz Deutschland – und ist bunt gemischt. „Von der 16-jährigen Studentin bis zum 86-jährigen Rentner ist alles dabei“, erzählt der Restaurator. Bei vielen dienen die Oldtimer als Schmuckstück an der Wand, manche nutzen sie als „Sonntagsrad“, ganz vereinzelt kommen auch Kunden, die die restaurierten Räder im Alltag fahren. Insgesamt hat Ingo das Gefühl, die Wertschätzung für die alten Räder steigt. Retro ist im Trend. „Viele junge Frauen kaufen beispielsweise die bunten Rennräder aus den 80er-Jahren“, sagt er und deutet mit ölverschmierten Fingern auf einige grelllackierte Modelle.
E-Bikes verboten!
Die alten Reklametafeln und faszinierenden Zweiräder haben Museumscharakter. Deshalb verschlägt es auch viele Schaulustige zu Living Classics. Neben den vielen Fahrrädern gibt es auch einige alte Motorräder und Mopeds in dem Geschäft. Um die kümmert Ingo sich gemeinsam mit einem Mitarbeiter, der einige Stunden in der Woche im Laden schraubt. Zum Tagesgeschäft gehört mittlerweile auch die Reparatur von „normalen“ Fahrrädern. Für diese brennt Ingo zwar nicht, aber sie gewährleisten ihm kleinere, regelmäßige Einkünfte. „Mit einem E-Bike braucht mir hier trotzdem keiner in den Laden kommen“, sagt Ingo und lacht.
Auf die Frage, ob er ein Lieblingsfahrrad hat, kann er keine Antwort geben. „Es gibt einfach zu viele“, meint Ingo und schlägt einen Drei-daumenbreiten Wälzer auf, der vor ihm auf einem Holztisch liegt. „Das alles sind Fahrradhersteller, die es im letzten Jahrhundert hier in Deutschland gegeben hat.“ Es sind Hunderte. Die meisten von ihnen sind verschwunden oder produzieren nun etwas anderes. Vor allem für die Landwirtschaft waren Fahrräder zu Beginn des 20. Jahrhunderts von großer Bedeutung. So waren die Menschen nicht nur mobil, sondern konnten dank praktischem Milchkannenhalters auch ihre Ware transportieren.
Zurück zur Ausgangsfrage: Welches ist denn nun Ingos liebstes Rad? „Tatsächlich habe ich selbst nicht mal ein Fahrrad. Ich nehme immer das, was mir gerade besonders gut gefällt“, sagt er schmunzelnd. Nach der langen Zeit der Restauration fällt es dem Oldtimer-Liebhaber manchmal schwer, sich von den Rädern zu trennen. Trotzdem ist seine Leidenschaft, die früher Ausgleich war, mittlerweile selbst zur alltäglichen Arbeit geworden. Als Ausgleich dient ihm jetzt ein 1,8 ha großer Garten, in dem er seine Vormittage verbringt. „Nach zwei schweren Unfällen habe ich mir versprochen, nur noch das zu tun, was mir Freude bereitet“, sagt Ingo inmitten von Fahrradlenkern und dreht sich einmal um die eigene Achse.
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