Als Susanne Rose vor 23 Jahren ihre heutige Frau Astrid zum ersten Mal sah, war sie völlig überrumpelt. Sie hatte Herzklopfen. „Ich war der festen Überzeugung, stockheterosexuell zu sein“, sagt die 54-Jährige. „Deshalb konnte ich mich natürlich nicht in eine Frau verlieben.“
Astrid und Susanne waren schon mal verheiratet. Mit Männern. Beide hatten bereits Kinder. Gleichgeschlechtliche Liebe? Unbekannt. Daher brauchten Astrid und Susanne eine ganze Zeit, um selbst zu realisieren, was los war. Susanne benötigte fast eineinhalb Jahre für diesen Prozess. Währenddessen suchte sie immer wieder Astrids Nähe. „Ich habe irgendwann mit meinen Freundinnen darüber gesprochen“, erzählt Susanne. „Ich sagte, ich steh’ doch auf Muskeln. Ihre Antwort darauf war ,Astrid hat doch auch tolle Muskeln‘.“ Auch Astrid war zunächst mit ihren Gefühlen überfordert. Sie fand Unterstützung in einem Onlineforum und gestand sich ein: Sie mochte Frauen.
Statistisch gesehen waren die beiden mit ihrer Selbsterkenntnis spät dran. Im Schnitt kommt der erste Gedanke bei LGBTQ-Menschen (also lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen und queeren Menschen), nicht heterosexuell zu sein, mit zwölf Jahren. Nur 11 % der Befragten gaben laut des Pew Research Centers (2013) an, ihre Orientierung erst mit 20 Jahren oder älter entdeckt zu haben.
Susanne und Astrid küssten sich mit 31 und 39 Jahren in der Silvesternacht zum Jahr 2002 zum ersten Mal. „Das war wie ein Sprung über einen Graben“, sagt Susanne. „Da konnten wir nicht mehr zurück.“
Tipps vom Pfarrer
Doch was nun? „Ich habe gedacht, wir müssten nach Köln ziehen“, erinnert sich Susanne. Denn das Paar wohnte nicht in einer Großstadt, sondern in Everswinkel-Alverskirchen im Kreis Warendorf – mit nur etwa 2000 Einwohnern. Anonymität Fehlanzeige. Sollten und konnten sie sich hier outen oder würde das zum Problem werden? In ihrer Ratlosigkeit wandte sich das frisch verliebte Paar an den örtlichen Pfarrer der katholischen Kirche. Ihm vertrauten sie. „Er hat großartig reagiert und uns zu einer Outing-Tour geraten“, erzählt Astrid. Die Idee dahinter: Vor allem Personen, die ihnen nahe standen, könnten verletzt werden, wenn sie aus zweiter Hand von der Beziehung erführen. Auch eventuellem Getratsche wollte das Paar mit der Offensive vorbeugen.
So begannen die beiden mit ihren Kindern. Die vier Jungs, drei von Astrid, einer von Susanne, kannten sich und die neue Partnerin an der Seite ihrer Mutter bereits gut. So veranstalteten Astrid und Susanne einen Spielenachmittag mit den Drei- bis Elfjährigen. Hier wollten sie die große Neuigkeit kundtun. Ein Gesellschaftsspiel später und das Geheimnis war raus. „Mein Größter hat nur gefragt, ob wir jetzt weiterspielen könnten“, erzählt Astrid schmunzelnd. „Diese Reaktion hat uns extrem bestärkt“, ergänzt Susanne. In den darauffolgenden Tagen und Wochen klapperten die beiden deshalb alle ihre Freunde und Familienmitglieder ab. Astrid lacht bei der Erinnerung: „Das Motto war quasi: Und wo outen wir uns morgen?“
Weniger tolerant als gedacht
Die Resonanz überraschte das Paar: Fast alle reagierten positiv und teils sogar abgeklärt. „Viele nahmen das alles leichter hin, als ich es gekonnt hätte“, sagt Susanne. „Denn für mich war es ja schon ein ganz schönes Ding.“ Heute vermuten die beiden, dass es nicht für alle so einfach war, wie es nach außen hin schien. „Unsere Freunde wollten uns bestimmt auch einfach ein gutes Gefühl und Sicherheit geben“, sagt Susanne – und dafür ist sie dankbar.
Überraschend problematisch wurde es bei Astrids Mutter. Nachdem Astrid ihr eröffnet hatte, dass sie sich Beziehungen zu Frauen vorstellen könnte, reagierte diese zunächst tolerant. Das hätte sie schon länger gewusst, behauptete sie. Als Astrid dann wenige Wochen später mit Susanne zusammen kam, wirkte ihre Mutter reserviert. „Nach einigen weiteren Wochen fragte sie mich, wie lange das denn noch gehen solle“, erzählt Astrid. „Mit meiner Antwort ‚Am liebsten für immer‘ kam sie nicht zurecht.“ Ihre Mutter brach den Kontakt ab. Annäherungen von Astrid konnte sie nicht annehmen. „Sie war doch nicht so tolerant, wie sie selbst gedacht hatte“, resümiert Astrid.
Das Schweigen hielt jedoch nur wenige Monate an. Heute ist Susanne als Schwiegertochter vollständig akzeptiert. Und auch andersrum ist Astrid selbst ein vollständiges Mitglied in Susannes Familie. „Mein Vater hatte nur Angst, dass er keine weiteren Enkelkinder bekommt“, erinnert sich Susanne. „Als er dann hörte, dass Astrid selbst drei Jungs hat, war alles in Ordnung.“
Auch in der gesamten Gesellschaft wünschen sich laut einer Statistik von 2019 86 % der Befragten in Deutschland, dass Homosexualität akzeptiert werden sollte. 11 % waren dagegen. Damit ist Deutschland europaweit auf dem vierten Platz. In Polen hingegen ist etwa jeder Zweite gegen die gesellschaftliche Akzeptanz von Homosexuellen.
Beleidigungen in der Schule
Nachdem das Geheimnis von Susanne und Astrid im Dorf verbreitet war, ging alles Schlag auf Schlag. Nach nur sechs Wochen Beziehung zogen sie zusammen. „Die zehn Minuten Fußweg waren uns schon zu viel“, lacht Susanne. Von da an hieß es, als Patchworkfamilie zusammenzuleben, ebenso wie in vielen anderen „Hetero-Familien“ auch. „Mit allen Höhen und Tiefen“, sagt Astrid.
Probleme durch die Beziehung ihrer Mütter hatten die vier Söhne nicht. Lediglich während eines Streits wurde einem der Söhne an den Kopf geworfen, dass seine Mutter mit einer Frau zusammen sei. Nach einem klärenden Gespräch zwischen den beiden Jungs waren sie wieder Freunde. Häufiger kommt das Thema bei Susannes Arbeit zur Sprache. Sie ist Grundschullehrerin und spricht dort offen über ihre Frau. „Für die Kinder in meiner Klasse ist das total normal“, sagt Susanne. Aussagen unter den anderen Kindern wie „Du bist schwul“ im Sinne einer Beleidigung hört die Lehrerin trotzdem ab und zu – zumindest auf dem Flur . „Erst letztens habe ich mit einem Jungen darüber gesprochen, was das bedeutet und dass er mit so einem Spruch Menschen verletzten kann“, erzählt Susanne. „Mit einem einzigen Gespräch ist es da leider nicht getan.“ Auch, wenn das Leben als homosexuelle Person in der heutigen Zeit wesentlich einfacher geworden ist, macht Susanne sich Sorgen – insbesondere um Jungen. „Vor allem als Mann ist es immer noch schwieriger, sich zu outen. Insgesamt muss sich noch eine Menge tun“, ist sie überzeugt.
Die Zahlen geben ihr recht. Auch in Deutschland müssen LGBTQ Menschen bis heute sogar Gewalt fürchten. 2022 wurden in Deutschland 1005 Straftaten wegen sexueller Orientierung begangen, 227 davon waren Gewaltdelikte.
Doppelt verheiratet
Seit 2007 sind Astrid und Susanne verheiratet. Damals ließen sie offiziell „nur“ ihre Lebenspartnerschaft eintragen. Erst seit Oktober 2017 ist die gleichgeschlechtliche Ehe in Deutschland erlaubt. 2019 heiraten Susanne und Astrid deshalb gleich noch mal – dieses Mal ganz offiziell als Ehepaar. Zur Hochzeit kamen unter anderem ihre Ex-Männer und Ex-Schwiegereltern. Sie sind auch nach der Trennung ein wichtiger Teil im Leben der Roses geblieben.
Bis heute lebt das Paar in Alverskirchen. Anfeindungen haben sie nicht erlebt. Nur einmal kamen ihnen Lästereien eines einzelnen Mannes zu Ohren. Davon ließen sie sich aber nicht beeindrucken. „Ich möchte entgegen der Klischees eine Lanze für die Menschen vom Dorf brechen“, sagt Astrid. Auch an ihrer Arbeitsstelle, einer landwirtschaftlichen Genossenschaft – bei der ebenfalls viele Menschen mit ländlichem Hintergrund arbeiten –, gab es nie Probleme. Astrid lebt eben mit einer Frau zusammen. „Ich brauche mich für unsere Liebe nicht zu schämen“, sagt sie bestimmt und wirft Susanne ein Lächeln zu. „Dich würde ich auch ein drittes Mal heiraten.“
Outing bei Schnack, Land, Fluss
Sich selbst dabei ertappen, weniger tolerant zu sein, als gedacht – das kennt auch Wochenblatt-Redakteurin Marit Schröder. Sie hat Astrid und Susanne Rose für unseren Podcast „Schnack, Land, Fluss“ getroffen. Hier erzählt das Paar ausführlich von ihrer Kennenlern- und Outinggeschichte.Hören Sie das ganze Gespräch kostenlos auf allen gängigen Podcast-Plattformen.
Bei vielen Menschen läuft das Outing nicht so reibungslos ab wie bei Familie Rose. Haben Sie selbst vor vielen Jahren gegenteilige Erfahrungen gemacht und wollen uns Ihre Geschichte erzählen? Oder haben Sie eine andere Geschichte, die unbedingt in unseren Podcast gehört? Dann melden Sie sich gern per E-Mail an hallo@schnack-land-fluss.de
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